13
Sam erwachte so plötzlich, daß sein Herz so stark zu klopfen begann, als würde es von zwei Alptraumkreaturen mit schmiedeeisernen Hämmern bearbeitet. Feuchte Luft wurde durch die undichten Bambuswände in das Innere seiner Hütte geblasen und bewegte die den Eingang verschließende Flechtmatte. Regen prasselte auf das blattbedeckte Dach. Über den Bergen rollte der Donner. Irgendwo erzeugte Joe derweil sein eigenes Gewitter.
Sam reckte sich, dann stieß er einen Schrei aus und zuckte zusammen. Seine Hand hatte etwas berührt. Ein aus der Ferne kommender Blitzschlag zerteilte in diesem Augenblick den Himmel und zeigte ihm für den Bruchteil einer Sekunde die Silhouette einer neben seinem Lager knienden Gestalt.
Eine ihm nicht unbekannte Baritonstimme sagte: »Es hat keinen Zweck, darauf zu warten, daß der Titanthrop Ihnen zu Hilfe kommt. Ich habe dafür gesorgt, daß er vor dem Morgengrauen nicht wach wird.«
Der Ethiker schien also auch in der Dunkelheit sehen zu können. Sam nahm eine Zigarre von dem neben seinem Bett stehenden kleinen Klapptisch und sagte: »Was dagegen, wenn ich rauche?«
Der geheimnisvolle Fremde benötigte für seine Antwort so lange, daß Sam mißtrauisch wurde. Ob er Angst davor hatte, daß das Licht, das Sams kleinem Feuerzeug entsprang, ihm zu viel von seinem Aussehen verraten würde? Sicher nicht, denn es war unwahrscheinlich, daß er unmaskiert zu ihm gekommen war. Mochte er vielleicht den Geruch einer Zigarre nicht, hatte er möglicherweise sogar etwas gegen Tabak in jeder Form? Und zögerte er nur deswegen so lange mit einer Antwort, weil er befürchtete, anhand seiner Abneigung identifiziert zu werden? Identifiziert von wem? Von den anderen Ethikern, die wußten, daß jemand aus ihren eigenen Reihen von ihnen abgefallen war? Es gab zwölf Auserwählte, hatte der Fremde behauptet. Wenn die anderen herausfanden, daß er, Sam Clemens, einer davon war, und sie unterzogen ihn einem Verhör: Konnten sie vielleicht anhand dieses Charakteristikums herausfinden, wer der Renegat war? Sam beschloß, seine Gedanken nicht zu äußern. Vielleicht konnten seine Erkenntnisse ihm später einmal von Nutzen sein.
»Rauchen Sie nur«, sagte der Fremde. Obwohl Sam weder sehen noch hören konnte, daß er sich dabei ein wenig zurückzog, hatte er das Gefühl, daß seine Annahme zutraf.
»Was«, fragte er, »hat dieser unerwartete Besuch zu bedeuten?«
»Ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, daß wir uns eine ziemlich lange Zeit nicht mehr sehen werden. Ich möchte nicht, daß Sie glauben, ich hätte Sie fallengelassen. Leider habe ich in nächster Zeit einige andere Dinge zu erledigen, die ich Ihnen nicht erklären kann, weil Sie sie nicht verstehen würden. Sie werden von jetzt an eine lange Zeit auf sich selbst angewiesen sein. Wenn Sie in Schwierigkeiten geraten, könnte ich Ihnen nicht einmal auf subtile Art und Weise beistehen.
Jedenfalls haben Sie jetzt erst einmal all das, was Sie mindestens ein Jahrzehnt lang beschäftigt halten sollte. Was die vielen technischen Probleme angeht, die jetzt auf Sie zukommen, haben Sie keine andere Wahl, als zu versuchen, Sie mit dem eigenen Grips zu lösen. Von nun an wird es für mich keine Möglichkeit mehr geben, Ihnen Tipps zu geben, wo Sie dies und das finden; oder Ihnen gegen irgendwelche Invasoren beizustehen. Ich habe bereits zuviel riskiert, indem ich den Meteoriten hier niedergehen ließ und Ihnen verriet, wo Sie Bauxit und Platin finden.
Es wird einige andere Ethiker – nicht die Zwölf, sondern Zweitrangige – geben, die Sie beobachten. Aber sie werden gegen Ihre Bemühungen nichts unternehmen. Keiner von ihnen wird auf den Gedanken kommen, der Bau Ihres Schiffes könnte ihrem Plan gefährlich werden. Sie werden wahrscheinlich überrascht sein, wenn sie herausfinden, daß Sie das Eisen gefunden haben, und möglicherweise den Kopf schütteln, wenn Sie auch noch Bauxit und Platin abbauen, weil sie es bevorzugen, daß ihr Erdenmenschen euch mit psychischen anstatt mit technischen Problemen auseinandersetzt, aber sie werden keinesfalls ihre Nase in die Sache hineinstecken.«
Sam fühlte Panik in sich aufsteigen. Zum ersten Mal wurde ihm bewußt, daß er – obwohl er den Ethiker nicht sonderlich mochte – dem Wesen dankbar für seine moralische und materielle Unterstützung war.
»Ich hoffe, daß nichts schiefläuft«, sagte er. »Heute wäre uns das Eisen beinahe abgenommen worden. Wenn Joe und der andere Bursche, Odysseus, nicht gewesen wären…«
Plötzlich unterbrach er sich und stieß erregt hervor: »Moment mal! Odysseus erzählte mir, daß der Ethiker, mit dem er sprach, eine Frau war!«
Aus der Finsternis heraus erklang ein Kichern. »Und jetzt fragen Sie sich, was das zu bedeuten hat?«
»Entweder sind Sie nicht der einzige, der von ihnen abgefallen ist, oder Sie können Ihre Stimme verändern. Oder vielleicht… vielleicht erzählen Sie mir überhaupt nicht die Wahrheit! Vielleicht stecken Sie selbst hinter diesem ganzen Plan und füttern uns lediglich deswegen mit Lügen, weil sie ihre eigenen Ziele verfolgen! Wir sind nichts als Werkzeuge für Sie!«
»Ich lüge nicht. Und was Ihre restlichen Vermutungen angeht: Darüber kann ich nicht reden. Sollten Sie oder einer der anderen, die ich auserwählt habe, irgendwann entdeckt und verhört werden, werden diese Dinge meine Kollegen auf jeden Fall in die Irre führen.«
Ein Rascheln erklang. »Ich muß jetzt gehen. Sie sind von nun an selbst für sich verantwortlich. Viel Glück.«
»Warten Sie! Was geschieht, wenn ich versage?«
»Dann wird ein anderer das Schiff bauen. Aber ich habe gute Gründe dafür, daß Sie es zustande bringen.«
»Also bin ich wirklich nur ein Werkzeug. Wenn ein Werkzeug zerbricht, wirft man es weg und nimmt ein anderes.«
»Ich kann Ihren Erfolg nicht garantieren. Ich bin kein Gott.«
»Verflucht sollen Sie sein und alle Ihrer Art!« sagte Sam laut. »Warum konnten Sie die Sache nicht so lassen, wie sie auf der Erde war? Wir hatten unseren Frieden und waren tot für immer. Es gab für uns weder Schmerz noch Kummer. Wir hätten nie wieder Bekanntschaft mit Qual und Liebeskummer gemacht. All das lag endlich hinter uns. Aber ihr habt uns erneut in Ketten gelegt und auch noch dafür gesorgt, daß wir nicht selbst Hand an uns legen können. Ihr habt den Tod aus unserer Reichweite vertrieben. Das ist entwürdigend. Das ist schlimmer, als wären wir in der Hölle gelandet!«
»So schlimm ist es nun auch wieder nicht«, erwiderte der Ethiker. »Den meisten von euch geht es besser, als es ihnen auf Erden jemals ergangen wäre. Und zumindest wieder auf den Beinen: Die Verkrüppelten, die Wunden, die Kranken – und all jene, die dem Hungertode nahe waren, sind wieder jung und gesund. Ihr braucht weder im Schweiße eures Angesichts euer tägliches Brot verdienen noch können die meisten von euch behaupten, daß sie hier ein schlechteres Essen erhalten, als sie es auf der Erde bekamen. Aber ich bin zumindest in einem Punkt auf eurer Seite. Es war ein Verbrechen, das größte Verbrechen aller Zeiten, euch wiederzuerwecken. Und deswegen…«
»Ich will Livy zurück!« schrie Sam. »Und meine Töchter! Solange sie von mir getrennt sind, könnten sie genauso gut tot geblieben sein. Ich wünschte mir wirklich, daß sie tot wären. Zumindest brauchte ich dann nicht ununterbrochen daran zu denken, wie dreckig es ihnen vielleicht in diesem Moment irgendwo auf dieser elenden Welt ergeht! Woher soll ich wissen, daß man sie nicht schon vergewaltigt, zusammengeschlagen oder gefoltert hat? Es gibt so viel Böses auf diesem Planeten! Und das ist kein Wunder, da auf dieser Welt alle Schurken der irdischen Vergangenheit versammelt sind.«
»Ich könnte Ihnen helfen«, sagte der Ethiker nach einer Pause. »Aber es würde Jahre dauern, bis ich sie finde. Ich kann Ihnen nicht die einzelnen Gründe dafür nennen, weil das zu kompliziert würde – und außerdem muß ich verschwunden sein, bevor der Regen aufhört.«
Sam stand auf und ging mit ausgestreckten Armen auf den Unbekannten zu.
Der Ethiker sagte: »Halt! Sie haben mich schon einmal berührt!«
Sam blieb stehen. »Sie könnten wirklich Livy für mich finden? Und auch meine Mädchen?«
»Ich werde es tun. Sie haben mein Wort. Nur… nur was, wenn es wirklich Jahre dauert? Stellen Sie sich vor, daß Sie das Schiff bis dahin gebaut haben und sich bereits eine Million Meilen flußaufwärts befinden. Und dann komme ich und sage Ihnen, daß ich Ihre Frau gefunden habe, aber daß sie sich drei Millionen Meilen flußabwärts aufhält? Ich kann Ihnen natürlich sagen, wo sie ist, aber ich könnte sie niemals zu Ihnen bringen. Das müßten Sie schon selber erledigen. Aber wie? Wollen Sie wenden und zwanzig Jahre damit vergeuden, daß Sie wieder flußabwärts fahren? Würde die Mannschaft dabei mitspielen? Ich bezweifle es. Aber selbst wenn es so käme – welche Garantie hätten Sie, daß Ihre Frau sich zwanzig Jahre später immer noch an diesem Ort aufhält? Was, wenn sie inzwischen umgekommen ist und an einer ganz anderen Stelle lebt?«
»Verdammt noch mal!« heulte Sam.
»Und außerdem«, erwiderte der andere, »verändern sich die Menschen im Laufe der Zeit natürlich. Sie mögen Ihre Frau ja immer noch lieben, wenn Sie sie finden, aber…«
»Ich bringe Sie um!« knirschte Sam Clemens. »Oh, helft mir doch…«
Die Bambusmatte wurde angehoben. Der Fremde war kurz als fledermausartige, mit einem Umhang bekleidete Silhouette erkennbar, dessen Kopf von einer Kapuze verborgen wurde. Sam stand mit geballten Fäusten da und zwang sich förmlich, zu einem unbeweglichen Eisblock zu werden, von dem die Wut allmählich abschmolz. Schließlich begann er knurrend auf und ab zu gehen und warf die angerauchte Zigarre weg. Sie schien plötzlich bitter zu schmecken. Nicht einmal die Luft konnte er länger ertragen.
»Verflucht sollen sie alle sein! Verflucht soll auch er sein. Ich werde mein Schiff bauen, zum Nordpol hinauffahren und herausfinden, was hier überhaupt vor sich geht! Und dann bringe ich ihn um! Und alle anderen auch!«
Der Regen hatte jetzt aufgehört. Aus der Ferne drangen Rufe an Sams Ohren. Er ging hinaus, ziemlich aufgeregt, weil er plötzlich damit rechnete, daß man den Fremden geschnappt hatte, obwohl das ziemlich unwahrscheinlich war. Ihm wurde auf einmal klar, daß dieses Schiff unglaublich viel für ihn bedeutete; soviel, daß er um keinen Preis der Welt irgendeine Verzögerung oder Störung des Baus hinzunehmen gewillt war – nicht einmal dann, wenn er dafür die Gelegenheit erhielt, sich auf der Stelle an dem Ethiker zu rächen. Dazu hatte er später noch genügend Zeit.
Über die Ebene liefen Menschen mit brennenden Fackeln. Als sie näher kamen, erkannte Sam an ihren Gesichtern, daß es sich um mehrere Wachen und Lothar von Richthof en handelte. Zwischen sich hatten sie drei Unbekannte. Sie waren mit Tüchern bekleidet, die von Magnetverschlüssen zusammengehalten wurden, was ihre Figuren formlos erscheinen ließ. Der Kopf des kleinsten der drei Fremden wurde von einer Kapuze verhüllt. Der größte der drei war ein Mann mit einem langen, schmalen, finster blickenden Gesicht und einer großen Hakennase.
»Sie haben alle Chancen, der zweite im großen Nasenwettbewerb zu werden«, sagte Sam. »In meiner Hütte ist jemand, der hat einen Zinken, neben dem der Ihre immer noch so aussieht, als würde er in sein linkes Nasenloch hineinpassen.«
»Nom d’un con! Va te faire foutre!« sagte der große Mann. »Muß ich mich überall da, wo ich mich aufhalte, beleidigen lassen? Ist das die Gastfreundschaft, die man einem Fremden gewährt? Bin ich zehntausend Meilen unter unglaublichen Bedingungen gereist, um den Mann, der mir noch einmal zu einer Handvoll Stahl verhelfen kann, zu finden, nur um mir anzuhören, wie meine Nase aussieht? Wisse er, unwissender Frechling, daß Savinien de Cyrano II de Bergerac niemals die andere Wange hinhält. Wenn er sich nicht auf der Stelle – und zwar mit Engelszungen – entschuldigt, werde ich ihn mit dieser meiner Nase aufspießen!«
Natürlich entschuldigte Sam sich sofort und erklärte sein Verhalten damit, daß die vergangene Schlacht gehörig seine Nerven durchgebeutelt habe. Dann starrte er verwundert die legendäre Gestalt an, die vor ihm stand, und fragte sich, ob er etwa einen anderen der zwölf Auserwählten vor sich hatte.
Der zweite Mann, ein blondschopfiger junger Mann mit blauen Augen stellte sich selbst als Hermann Göring vor. Ein Rückgratknochen von einem Drachenfisch hing an einer Kordel um seinen Hals, und Sam wußte sofort, daß er einen Vertreter der Kirche der Zweiten Chance vor sich hatte, die absoluten Pazifismus predigte.
Der dritte Fremde schob seine Kapuze nach hinten und offenbarte ein ausnehmend hübsches Gesicht und langes, schwarzes Haar, das zu einem Knoten geschlungen war.
Sam stolperte und verlor beinahe die Besinnung. »Livy!«
Die Frau bewegte sich, sie kam näher auf ihn zu und musterte ihn stumm im Licht der Fackeln. Sie wankte dabei vor und zurück, als stünde sie unter einem Schock.
»Sam«, sagte sie schwach.
Er machte einen Schritt auf sie zu, aber sie wandte sich plötzlich von ihm ab und klammerte sich hilfesuchend an Bergerac. Der Franzose legte einen Arm um sie und starrte Sam Clemens an. »Nur Mut, mein Lämmchen«, sagte er. »Niemand wird dir etwas tun, solange ich bei dir bin. Was bedeutet er für dich?«
Livy sah Sam nun mit einem Ausdruck an, den man nicht fehlinterpretieren konnte. Er heulte auf und drohte mit geballter Faust den Sternen, die jetzt zwischen den Wolkenbänken sichtbar wurden.